Werteverfall

Wieder mit dem Zug gefahren. Daß ich eine dreißigminütige Verspätung inkaufnehmen mußte, lag nicht daran, daß sich mein Zug verspätete. Nein. Der ist unschuldig, er fiel nämlich aus. Die Verspätung geht ganz und gar auf das Konto des Ersatzzuges, der mich allerdings mit einem Sitzplatz entschädigte - sogar am Fenster, was in überfüllten Zügen, zum Beispiel solchen zum Ersatz von doppelt so langen, sehr angenehm ist, und seiner Betriebsstörung. Und aufregen kann ich mich über Verzögerungen nun, da mein Verspätungstip zu einem der meistresonierenden (Resonieren, nicht räsonieren!) Tagebucheinträge geworden ist, auch nicht mehr, zumal sich zusätzlich zu den benötigten Büchern dank mütterlicher Fürsorge auch noch Obst, Brote, Schnitzel und Rinderbraten in meiner Reiseaustattung fanden. (Ha, eine halbe Stunde? Eine halbe Woche hätte ich es damit ausgehalten!) Kleingeld für eine heiße Schokolade, die es am Flughafenbahnhof gab, war sogar auch noch vorhanden.

Aber das ist vom Thema abgeschweift, ob die Bereitschaft dazu eine Tugend oder eine Unsitte ist, sei dahingestellt, ich gebe ja zu, keine Kurznachrichten von 160 Zeichen schreiben zu können. Wie dem auch sei. «Die Bahn» machte ihrem aus der Eigenwerbung weitgehen verdrängten Prädikat alle Ehre, indem sie den Ersatzzug mit einer Zugnummer, die dann auch auf den Anzeigetafeln den Passagieren zum Einprägen angedient wurde, ausstattete und so die deutsche Gründlichkeit hochhielt. Sogleich machte aber die freundliche Zugchefin diesem Ausfluß von Tugend einen Strich durch die Rechnung, indem sie in ihrer Aus- und Durchsage eine andere Zahl zitierte. Was wird aus der Welt, wenn man ihre Züge nicht mehr identifizieren Kann? So verzichtete ich dann auch darauf, mir die angebotenen Ziffern zu merken, sondern schaute wieder in mein Buch, dessen verläßlich-treue Nummerierung der Seiten einen Ruhepol und Hoffnungsschimmer und dessen Text Ablenkung schenkte.

Glücklich, wer bei Reisen auf Bücher bauen kann! Und den Skeptikern sei noch gesagt: Die Seitenzahlen waren nicht nur absolut zuverlässige sondern auch noch beständig wachsende Werte. Von wegen Verfall!